Zusammenfassung des Jugendhilfereports 04.19
Zusammenfassung des Jugendhilfereports 04.19
Der Jugendhilfereport 04.19 widmet sich dem Schwerpunkt Trennungs- und Scheidungsberatung. Im Mittelpunkt stehen die Herausforderungen für Kinder und Eltern bei Trennung oder Scheidung, die Rolle der Jugendhilfe sowie wissenschaftliche und praktische Erkenntnisse zu Umgangsmodellen wie dem Residenzmodell (Kind lebt überwiegend bei einem Elternteil) und dem Wechselmodell (paritätische Betreuung durch beide Eltern).
Zentrale Inhalte:
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Trennung und Scheidung sind für Kinder meist einschneidende, kritische Lebensereignisse.
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Kinder benötigen nach einer Trennung besondere Zuwendung, Sicherheit und die Zusicherung, dass sie nicht für die Situation verantwortlich sind.
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Die Jugendhilfe ist gesetzlich verpflichtet, Eltern und Kinder zu beraten und zu unterstützen, um einvernehmliche und kindeswohlorientierte Lösungen zu fördern.
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Der gesellschaftliche Diskurs zu Umgangsmodellen ist häufig ideologisch geprägt und selten faktenbasiert.
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Die Forschung zeigt, dass das Kindeswohl individuell betrachtet werden muss und von mehreren Faktoren abhängt, darunter das Betreuungsmodell, der Erziehungsstil und das Konfliktniveau zwischen den Eltern1.
Herausforderungen für Kinder bei einseitiger Betreuung (Residenzmodell)
Kinder, die nach Trennung oder Scheidung nur bei einem Elternteil leben, stehen vor besonderen Herausforderungen:
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Psychische Belastungen: Studien zeigen, dass Kinder im Residenzmodell häufiger psychische Auffälligkeiten wie ADHS, Depressionen und Angststörungen entwickeln können. Jungen zeigen oft auffälliges, aggressives Verhalten, während Mädchen eher zu internalisierenden Störungen wie Essstörungen oder Depressionen neigen1.
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Gefahr der Eltern-Kind-Entfremdung: Der Kontaktabbruch oder eine starke Reduktion des Kontakts zu einem Elternteil kann zu Entfremdungsprozessen führen (Parental Alienation Syndrome), was langfristig die Entwicklung und Beziehungsfähigkeit des Kindes beeinträchtigen kann.
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Schuldgefühle und Loyalitätskonflikte: Kinder fühlen sich häufig für die Trennung verantwortlich und geraten in Loyalitätskonflikte, wenn sie nur bei einem Elternteil leben.
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Langfristige Folgen: Ein Viertel bis ein Drittel der betroffenen Kinder leidet nach Studienlage lebenslang unter den Folgen der Trennung, insbesondere wenn der Kontakt zu einem Elternteil abbricht oder stark eingeschränkt wird (Wallerstein, 1991)1.
Studienlage zu Betreuungsmodellen
Wichtige internationale Studien und deren Ergebnisse:
Studie/Autor | Erkenntnisse zum Kindeswohl bei einseitiger Betreuung |
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Tobias et al. (2010) | Kinder im Wechselmodell zeigen weniger psychische Auffälligkeiten |
Bergström et al. (2013) | Bessere Gesundheit und Wohlbefinden bei gemeinsamer Betreuung |
Carlsund et al. (2013) | Geringere Belastungen bei geteiltem Sorgerecht |
Musick & Meier (2010) | Ressourcen und Schulerfolg profitieren vom Kontakt zu beiden Eltern |
Cyr et al. (2013) | Vorteile des Wechselmodells abhängig vom Konfliktniveau |
Bastaits et al. (2014) | Bedeutung des väterlichen Erziehungsstils für das Kindeswohl |
Wallerstein (1991) | 25–33% der Kinder leiden lebenslang unter Folgen einseitiger Betreuung |
Die Studienlage spricht dafür, dass eine regelmäßige Beziehung zu beiden Elternteilen das Risiko psychischer und sozialer Probleme reduziert. Die Vorteile des Wechselmodells zeigen sich insbesondere bei geringem elterlichen Konfliktniveau und kooperativem Umgang1.
Gerichtliche Urteile und Rechtslage zur einseitigen Betreuung
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Rechtliche Grundlage: Nach § 1684 BGB sind Eltern verpflichtet, alles zu unterlassen, was das Verhältnis des Kindes zum anderen Elternteil beeinträchtigt. Das Kindeswohl steht im Zentrum aller gerichtlichen Entscheidungen.
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Gerichtsurteile: Deutsche Gerichte betonen regelmäßig, dass der Umgang mit beiden Elternteilen grundsätzlich dem Kindeswohl dient. Einseitige Betreuung wird nur bei erheblichen Gründen (z. B. Kindeswohlgefährdung) angeordnet.
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Diskriminierung eines Elternteils: Es gibt keine höchstrichterlichen Urteile in Deutschland, die die einseitige Betreuung pauschal als Diskriminierung eines Elternteils oder als Kindeswohlgefährdung einstufen. Vielmehr wird stets eine individuelle Prüfung vorgenommen. Die Tendenz geht aber dahin, dass Gerichte zunehmend das Wechselmodell als Regelfall prüfen, sofern es dem Kindeswohl entspricht und keine erheblichen Konflikte oder praktische Hindernisse bestehen1.
Fazit
Die größte Herausforderung für Kinder bei einseitiger Betreuung ist das Risiko der psychischen Belastung, der Entfremdung und der langfristigen Beeinträchtigung der Entwicklung. Die wissenschaftliche Evidenz spricht dafür, dass der regelmäßige Kontakt zu beiden Elternteilen – sofern das Konfliktniveau niedrig ist und beide Eltern kooperieren – dem Kindeswohl am meisten entspricht. Einseitige Betreuung wird in der aktuellen Rechtsprechung nicht als pauschale Schädigung oder Diskriminierung gewertet, sondern individuell geprüft.
Wichtige Studien:
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Tobias et al. (2010)
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Bergström et al. (2013)
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Carlsund et al. (2013)
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Musick & Meier (2010)
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Cyr et al. (2013)
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Bastaits et al. (2014)
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Wallerstein (1991)1
Weiterführende Hinweise:
Die Forschung und Rechtsprechung entwickeln sich fortlaufend. Für Einzelfälle empfiehlt sich eine individuelle rechtliche Beratung und ggf. die Einbeziehung von Jugendhilfe und Familiengericht.
- https://www.lvr.de/media/wwwlvrde/jugend/service/publikationen/dokumente_97/19.04_JHR_KOMPLETT_20190910_2_WEB.pdf
- http://link.springer.com/10.1007/s00132-013-2221-y
- http://link.springer.com/10.1007/978-3-642-90638-1_8
- https://econtent.hogrefe.com/doi/10.1026//0942-5403.9.1.50
- http://link.springer.com/10.1007/s00101-004-0708-y
- http://link.springer.com/10.1007/978-3-642-81831-8_90
- http://www.thieme-connect.de/DOI/DOI?10.1055/s-2007-998652
- http://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0934-9200-2009-3-103.pdf
- https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/document/51202/1/ssoar-disk-2017-1-riedl-Kindeswohl_-_eine_sozialethische_Grundlegung.pdf
- https://pub.uni-bielefeld.de/download/2964673/2964674/Kelle-Edler2021_Article_DFG-ProjektRisikoeinsch%C3%A4tzungU.pdf
- https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/document/56428/1/ssoar-disk-2018-1-hahn-Strafe_als_gemeinsame_Handlung_von.pdf
- https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC11614995/
- https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC8821045/
- https://zenodo.org/record/2480285/files/article.pdf
- https://www.budrich-journals.de/index.php/diskurs/article/view/40015
- https://ojs.szh.ch/zeitschrift/article/download/1343/1685
- https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC9522698/
- https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC11143041/
- https://ojs.szh.ch/zeitschrift/article/download/1348/1700
- https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/article/download/87/83
- https://www.medienpaed-ludwigsburg.de/article/download/378/372